Gibt es bei Albert Einstein Indizien für Neurodiversität? Am 17.04.2025 war Einsteins 70. Todestag. Er ist auch heute noch ein spannender Mensch. Weil er die Physik neu dachte und auch weil seine Denkweise uns inspirieren kann.
Neurodivergentes Genie? Einstein neu betrachtet
Hat Einstein seine revolutionäre Ideen aufgrund seiner von der Norm abweichenden Denkfähigkeit entwickelt?
Manche Menschen denken nicht nur außerhalb der Box – sie erkennen die Box gar nicht erst an. Einstein mit seinem unkonventionellen Lebensstil, seiner intensiven Fokussierung und seinem intuitiven Zugang zu abstrakten Konzepten verkörperte das perfekt. Seine Fähigkeit, etablierte Annahmen radikal zu hinterfragen, deutet auf ein Denkmuster hin, das wir heute möglicherweise als neurodivergent bezeichnen würden. Vielleicht war es genau diese besondere Wahrnehmung der Wirklichkeit, die ihm erlaubte, die Natur des Universums auf eine Weise zu verstehen, die anderen verschlossen blieb.
Neurodiversität ist ein Konzept, das die Bandbreite von verschiedenen Denk- und Wahrnehmungsstilen beschreibt. Was genau ist Neurodiversität? Das können Sie hier nachlesen.

1. Späte Sprachentwicklung
Einstein lernte sehr spät sprechen, so dass man schon besorgt wegen seiner geistigen Entwicklung war. (Quelle: Albrecht Fölsing "Albert Einstein: A Biography", 1997: “It is true that my parents were worried because I began to speak relatively late, so much so they consulted a doctor. I can’t say how old I was then, certainly not less than three.”)
Diese verzögerte Sprachentwicklung wird heute bei der Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen als ein möglicher Indikator betrachtet. Allerdings ist es klar: Eine Sprachverzögerung allein ist kein eindeutiger Beweis für Autismus, da sie viele verschiedene Ursachen haben kann.

2. Soziale Zurückgezogenheit und Eigenheiten
Zeitlebens beschrieb Einstein Schwierigkeiten mit gesellschaftlichen Konventionen und oberflächlichen Gesprächen. Er beschrieb sich oft als Einzelgänger und haderte mit gesellschaftlichen Normen. (Quelle: "Einstein: His Life and Universe" von Walter Isaacson, 2007).
Diese soziale Distanz und das Unbehagen mit Small Talk sind bei Autisten gängig. Auch die bei ADHS häufig auftretenden Schwierigkeiten, soziale Feinheiten zu erfassen oder angemessene Filter in der Kommunikation einzusetzen, zeigen sich in Einsteins Leben.

3. Intensive Fokussierung auf Spezialinteressen
Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften Einsteins war seine Fähigkeit zu tiefster Konzentration. Er konnte sich völlig in Gedankenexperimente vertiefen und dabei die Umgebung um sich herum vergessen. Seine Schwester Maja bestätigte seine außergewöhnliche Konzentrationsfähigkeit: "His work habits were rather odd:
even in a large, quite noisy group, he could withdraw to the sofa, take pen and paper in hand, set the inkstand precariously on the armrest, and lose himself so completely in a problem that the conversation of many voices stimulated rather than disturbed him. An indication of remarkable power of concentration." (Quelle: https://einsteinpapers.press.princeton.edu/vol1-trans/15)
Eine solche Arbeitsweise nennt man heute "Hyperfokus". Diese Fähigkeit gehört sowohl zu Autismus als auch zu ADHS. Ja, auch bei ADHS kann Hyperfokus auftreten, wenn Interesse vorhanden ist. Das können Eltern von Kindern mit ADHS oft kaum glauben.

4. Bildhaftes Denken
Ein sehr faszinierender Aspekt von Einsteins Denkweise war seine Fähigkeit, komplexe physikalische Konzepte in visuellen Bildern statt in Worten zu erfassen. In "An Essay on the Psychology of Invention in the Mathematical Field" (1945) zitiert Jacques Hadamard einen Brief, in dem Einstein seinen Denkprozess detailliert beschreibt: "The words or the language, as they are written or spoken, do not seem to play any role in my mechanism of thought. The psychical entities which seem to serve as elements in thought are certain signs and more or less clear images which can be “voluntarily” reproduced and combined."
Einsteins Denkweise erinnert mich an das Konzept des "Thinking in Pictures", das durch die Autismus-Aktivistin Temple Grandin in ihrem Buch "Thinking in Pictures: My Life with Autism" bekannt wurde. Wenn Sie Temple Grandin noch nicht kennen, empfehle ich wärmstens auf YouTube einen ihrer Vorträge. Zum Beispiel ihren TED-Talk oder diese kurze Sequenz bei CNN.
Diese Art des visuell-räumlichen Denkens ist nicht nur bei Autismus zu beobachten, sondern auch bei ADHS und Hochbegabung. Menschen mit ADHS-Gehirn berichten oft von einem assoziativem, nicht-linearem Denken. Bei Hochbegabung kommen häufiger multimodale Denkstile vor, die verbale und bildhafte Elemente kombinieren, wie Linda Kreger Silverman in ihrem ausführlichen Buch "Upside-Down Brilliance. The Visual Spatial Learner" (2002) beschreibt.
Die Präferenz für non-verbales, visuelles, abstraktes oder räumliches Denken ist ein spannendes Phänomen. Sollten Sie nun denken, dass das doch alles dasselbe ist: Nein, ist es nicht, wie ich aus meiner eigenen Erfahrung und vielen Gesprächen mit Autisten weiß.

5. Schwierigkeiten mit Schule und Autoritäten
Einsteins Schulkarriere war von Konflikten mit Autoritäten und Widerstand gegen standardisierte Lernmethoden geprägt. Einstein selbst bezeichnete die Schule später als "Gefängnis" (Quelle: The World As I See It, 1931). "In his Munich school, [...] he had made his first strike against 'Zwang'" (Quelle: Walter Isaacson, Einstein. His Life and Universe, 2007). Diese Schule hieß damals Luitpold-Gymnasium, heute Albert-Einstein-Gymnasium 🙂
Solche Schwierigkeiten mit traditionellen Bildungsformen sind bei neurodivergenten Menschen häufig. Menschen mit ADHS erleben oft inneren Widerstand gegen fremdbestimmte Aufgaben, während Menschen im Autismus-Spektrum häufig an starren Lehrplänen verzweifeln, die ihrer nicht-linearen Denkweise zuwiderlaufen.

6. Routinen und Eigenarten
Einstein entwickelte im Laufe seines Lebens markante Routinen und Gewohnheiten. Historische Fotografien bezeugen Einsteins gleichbleibenden Stil mit dem charakteristischen grauen Anzug und den zerzausten Haaren.
Über die Kleidung hinaus pflegte Einstein weitere strukturierte Gewohnheiten. In Princeton folgte er einem festen Tagesablauf: vormittags widmete er sich physikalischen Problemen, nachmittags erledigte er Korrespondenz. Seine langen täglichen Spaziergänge, die er zur Gedankenordnung nutzte, erwähnte er regelmäßig in Briefen an seinen Freund Max Born. Seine Haushälterin Ellen Dukas berichtete zudem, dass Einstein jahrelang mittags Linsensuppe gegessen hat.
Bei neurodivergenten Personen sind solche strukturierten Routinen bekannt. Temple Grandin beschreibt in ihrem Buch "The Autistic Brain: Thinking Across the Spectrum" (2013), wie Rituale und vorhersehbare Abläufe dazu beitragen können, Reizüberflutung zu reduzieren.
Auch bei ADHS haben feste Routinen eine besondere Bedeutung. Der Neuropsychologe Russell Barkley erklärt in "Taking Charge of Adult ADHD" (2010), wie die Vereinfachung von Alltagsentscheidungen kognitive Ressourcen schont. Vorhersehbare Abläufe und Strukturen bieten Sicherheit in einer ansonsten überwältigenden Welt.

7. Motorische Besonderheiten
Die Körperkoordination Einsteins bietet ebenfalls interessante Einblicke in seine Persönlichkeit. Der einzige Sport, den er mochte, war das Segeln – und gleichzeitig gibt es viele Quellen, die beschreiben, dass er ein miserabler Segler war. Er verlor oft die Orientierung, lief auf Grund, kenterte oder kollidierte beinahe mit anderen Booten.
Ist das ein Indiz für Neurodivergenz? Zumindest sind diese Beobachtungen bemerkenswert, denn motorische Koordinationsschwierigkeiten gelten heute als häufige Begleiterscheinung bei Autismus und ADHS. In der modernen Diagnostik würden solche Merkmale unter dem Begriff „Dyspraxie“ betrachtet – ein Phänomen, das laut DSM-5 etwa 5–6 % der Kinder betrifft und häufig gemeinsam mit Autismus (30–40 % der Fälle) oder ADHS (bis zu 50 %) auftritt.
Denken Sie jetzt: Moment mal, Einstein war ein begeisterter und talentierter Geiger und spielte auch Klavier – also war mit seiner Motorik doch alles in Ordnung? So einfach ist es nicht. Es gibt tatsächlich Menschen mit diagnostizierter Dyspraxie, die in bestimmten motorischen Bereichen, etwa beim Musizieren, außergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln können.
Einstein hatte zudem eine unleserliche Handschrift, auch das ist ein Merkmal, das häufig mit Dyspraxie in Verbindung gebracht wird. Eine schlechte Handschrift kann ein Hinweis sein, ist aber natürlich kein eindeutiges Diagnosekriterium. Ob er heute eine solche Diagnose bekommen würde, bleibt also ehrlicherweise offen.

8. Empfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen
Einstein bevorzugte zeitlebens ruhige, reizarme Umgebungen. Das prägte sowohl seine Wohnortwahl als auch seine Arbeitsweise. Seine langjährige Haushälterin Helen Dukas berichtete, dass er am liebsten in seinem kleinen, schlichten Büro mit geschlossenen Jalousien arbeitete.
Im Autismus-Spektrum berichten 70-90% der Menschen von sensorischer Überempfindlichkeit, wie eine Studie von Tavassoli (2014) zeigt. Sie vermeiden häufig laute Umgebungen und Menschenmengen. Ähnlich erleben 50-60% der Menschen mit ADHS Reizfilterschwächen, die zu kognitiver Überladung führen können.
Zu Einsteins Verhalten passen mehrere Aspekte dieses Musters: Er wählte konsequent ruhige Wohnorte (Berlin-Dahlem, Princeton), ließ sein Arbeitszimmer stets nach Norden ausrichten (für indirektes Licht) und verzichtete laut Dukas auf Radio und Fernsehen in seinem Haushalt.
Obwohl Einsteins bewusste Wahl reizarmer Lebensumgebungen und seine dokumentierte Abneigung gegen gesellschaftlichen Trubel gut belegt sind, heißt das nicht zwingend, dass er neurodivergent war. Introvertierte Menschen haben zum Beispiel ein ähnliches Bedürfnis.
Neurodivergentes Denken: Schlüssel zu Einsteins Genialität?
War Einsteins unkonventionelle Denkweise nicht nur eine Begleiterscheinung, sondern vielmehr ein Schlüssel zu seinen bahnbrechenden wissenschaftlichen Durchbrüchen? Vieles spricht dafür, auch wenn sich das nicht vollständig belegen lässt.
Einsteins Fähigkeit, in visuellen Gedankenexperimenten zu denken – wie etwa seine berühmte Vorstellung, auf einem Lichtstrahl zu reiten – entspricht genau jener bildhaften Denkweise, die viele neurodivergente Menschen beschreiben. Seine Relativitätstheorie entstand nicht durch lineare, sprachbasierte Analyse, sondern durch räumlich-visuelles Denken jenseits konventioneller Vorstellungen.
Seine ausgeprägte Fähigkeit zum Hyperfokus ermöglichte es ihm, sich mit einer Intensität in physikalische Probleme zu vertiefen, die die meisten Menschen nicht aufrechterhalten können. Gleichzeitig erlaubte ihm seine Distanz zu etablierten Denktraditionen, Annahmen zu hinterfragen, die andere als selbstverständlich betrachteten.
Dr. Simon Baron-Cohen, Direktor des Autism Research Centre an der Universität Cambridge, beschreibt in seinem Buch "The Pattern Seekers: How Autism Drives Human Invention" (2020) Einstein als mögliches Beispiel für "neurodiverses Genie". Er schreibt "Einstein’s way of thinking - his relentless focus on patterns, his disregard for social conventions, and his visual, non-verbal reasoning - aligns closely with what we see in many autistic individuals today. While we cannot diagnose him posthumously, he exemplifies the ‘pattern seeker’ mind that drives human invention." Ja, retrospektive Diagnosen sind grundsätzlich nicht möglich. Inspirieren und unseren heutigen Blick auf Neurodiversität verändern, können solche Gedankenexperimente durchaus.
Neurodiversität damals und heute: Was wir von Einstein lernen können
Einstein lebte in einer Zeit, in der Konzepte wie Autismus oder ADHS noch nicht existierten oder gerade erst in ihrer frühesten Form benannt wurden. Wie hätte sein Leben ausgesehen, wäre er in der heutigen Zeit aufgewachsen?
Vermutlich hätte Einstein heute größere Herausforderungen gehabt. Sein unkonventionelles Verhalten in der Schule wäre früher pathologisiert worden. Das hat einen Einfluss auf das eigene Selbstbild. Hätten gezielte Förderungen seine Stärken noch besser zur Entfaltung bringen können? Ich weiß es nicht.
Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob Einstein eine Diagnose bekommen hätte, sondern vielmehr, wie wir als Gesellschaft sein Beispiel nutzen können, um den Wert neurodivergenter Denkweisen anzuerkennen:
- Akzeptanz unterschiedlicher Lernstile: Einsteins Schwierigkeiten mit traditionellen Bildungsformen erinnern uns daran, dass brillante Köpfe oft in standardisierten Lernumgebungen übersehen werden.
- Wertschätzung intensiver Interessen: Was früher als "Besessenheit" abgetan wurde, verstehen wir heute als wertvolle Fokussierungsfähigkeit, die zu Meisterschaft führen kann.
- Raum für tiefes Nachdenken: Mit Netflix, TikTok & Co können wir den Wert ungestörter Denktätigkeit gar nicht hoch genug schätzen – etwas, das Einstein als essentiell für seine Arbeit betrachtete.
- Förderung bildhaften Denkens: Neben sprachlich-analytischen Fähigkeiten sollten wir auch visuelle und intuitive Denkweisen würdigen und kultivieren.

Andere berühmte Persönlichkeiten mit möglicher Neurodiversität
Einstein steht nicht allein. Die Geschichte ist reich an herausragenden Persönlichkeiten, deren unkonventionelle Denkweisen und Verhaltensweisen aus heutiger Sicht Anzeichen von Neurodiversität aufweisen:
- Isaac Newton: Extreme Fokussierung, soziale Schwierigkeiten und ausgeprägte Routinen
- Immanuel Kant: Strenge Tagesroutinen, zurückgezogener Lebensstil und intensive Fokussierung auf philosophische Probleme
- Nikola Tesla: Visuelle Denkweisen, sensorische Empfindlichkeiten und komplexe Rituale
- Ada Lovelace: Intensive Spezialinteressen und synästhetische Denkweisen
- Wolfgang Amadeus Mozart: Sensorische Sensibilitäten und ungewöhnliche soziale Interaktionen
- Alan Turing: Direkte Kommunikation, Schwierigkeiten mit sozialen Normen und tiefe Spezialinteressen
Diese Beispiele verdeutlichen, dass neurodivergente Denkweisen oft mit außergewöhnlicher Kreativität und bahnbrechenden Innovationen einhergehen können.
Fazit: Neurodiversität als Bereicherung der Wissenschaft und Gesellschaft
Die Hinweise auf Einsteins mögliche Neurodiversität sollten nicht als nachträgliche Diagnose verstanden werden, sondern als Gelegenheit, den Wert unterschiedlicher Denkweisen neu zu würdigen. Obwohl die beschriebenen Merkmale Parallelen zu Autismus oder ADHS aufweisen, bleibt eine retrospektive Diagnose spekulativ.
Die unkonventionellen Denk- und Verhaltensweisen, die Einstein zeigte, waren sicherlich wesentliche Bestandteile seines brillanten Denkens. Wir haben heute so viele komplexe Probleme zu lösen. Da brauchen wir mehr denn je unterschiedliche Perspektiven und Denkweisen. Einsteins Leben zeigt, was möglich ist, wenn unkonventionelle Köpfe die Freiheit haben, ihre einzigartige Denkweise zu entfalten.
Einstein schrieb in Out of My Later Years (1950): "Wir können eine Krise nicht mit demselben Denken bewältigen, das sie verursacht hat." Vielleicht ist es genau diese neurodivergente Denkweise – die Fähigkeit, anders zu denken – die unsere größte Ressource für die Herausforderungen der Zukunft darstellt.
Kennen Sie weitere historische Persönlichkeiten mit Anzeichen von Neurodiversität? Teilen Sie Ihre Gedanken gerne in einem Kommentar! Dann greife ich Ihre Anregungen auf und schreibe weitere Artikel 🙂
Die Inspiration für diesen Blogartikel kam, weil ich am 07.05.2025 bei der WISTA in Berlin ausgerechnet im Einstein-Kabinett eine Masterclass über Neurodiversität halte.